Frauenrechte, Gewalt und Feminismus
Gisèle Pelicot - ein gesellschaftlicher Weckruf
Gewalt gegen Frauen ist keine Randerscheinung. Es handelt sich nicht um tragische Einzelereignisse. Sie ist vielmehr Ausdruck tief verwurzelter gesellschaftlicher Strukturen. Sie basieren auf Macht, Unterdrückung und Ungleichheit. Trotz jahrzehntelanger feministischer Kämpfe zeigt sich immer wieder: Die Rechte von Frauen auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Freiheit werden weltweit, auch in modernen Demokratien, systematisch verletzt.
Aktuelle Fälle wie der von Gisèle Pelicot in Frankreich verdeutlichen auf schmerzhafte Weise, wie wenig Schutz Frauen oft erfahren. Sie zeigen wie häufig Täter durch individuelles und institutionelles Versagen gedeckt werden. Sie stehen dabei in einer Reihe mit Skandalen um mächtige Männer wie Harvey Weinstein, Sean Combs oder Till Lindemann, deren Verhalten jahrelang toleriert oder bewusst ignoriert wurde.
Ich werde hier aufzeigen, warum es dringend einen Perspektivwechsel braucht: Statt Frauen endlos Tipps zur eigenen Gefahrenvermeidung zu geben, müssen wir als Gesellschaft endlich die Verantwortung bei den Tätern verorten. Es reicht nicht mehr, wegzusehen, zu verhamlosen. Es stillschweigend als Normalzustand hinzunehmen. Es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und darum, ob wir den Mut haben, diese grundlegend zu verändern.
Ein erschütternder Fall: Gisèle Pelicot und die Normalisierung von Gewalt
Der Fall Gisèle Pelicot erschütterte nicht nur Frankreich, sondern auch international. Er steht exemplarisch für die systemische Verharmlosung sexualisierter Gewalt. Über nahezu ein Jahrzehnt wurde sie von ihrem Ehemann Dominique Pelicot systematisch mit Drogen außer Gefecht gesetzt und zahlreichen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Obwohl sie bewusstlos und vollkommen wehrlos war, verteidigten sich die Täter vor Gericht damit, sie hätten „keinen Widerstand“ bemerkt oder seien davon ausgegangen, ihr Verhalten sei einvernehmlich.
Besonders erschütternd war, mit welchen absurden Argumenten versucht wurde, das offensichtliche Verbrechen zu relativieren. So wurden zum Beispiel frühere FKK Bilder herangezogen um eine exhibistionistische Neigung aufzuzeigen und damit die Handlungen der Männer zu rechtfertigen. Es sollte suggeriert werden, dass Nacktheit oder Wehrlosigkeit eine Zustimmung impliziere. Solche Abwehrstrategien zeigen nicht nur ein erschütterndes Maß an Tätermentalität, sondern offenbaren auch ein gesellschaftliches Grundproblem: Die Relativierung von sexualisierter Gewalt und die systematische Infragestellung von Opfern. (Q1/Q2)
Warum „Nur Ja heißt Ja“ der bessere Standard ist
Auf dramatische Weise macht der Fall Gisèle Pelicot sichtbar, warum das bisherige rechtliche Verständnis von Einvernehmlichkeit unzureichend ist. Es genügt nicht, dass jemand sich nicht explizit wehrt oder „Nein“ sagt – denn Schweigen, Handlungsunfähigkeit oder Angst bedeuten nicht Zustimmung.
Ein modernes Sexualstrafrecht muss daher auf einem einfachen, aber klaren Prinzip basieren: Nur ein aktives, freiwilliges und bewusst gegebenes „Ja“ ist eine Zustimmung. Länder wie Schweden und Spanien haben das mit „Nur Ja heißt Ja“-Gesetzen bereits umgesetzt. Sie setzen damit ein deutliches Zeichen. Der Schutz von Betroffenen und nicht die Verteidigung von Tätern muss im Mittelpunkt stehen. Auch Deutschland und andere Länder müssen dringend diesen Paradigmenwechsel vollziehen. (Q3)
Kein Einzelfall: Gewalt an Frauen als strukturelles Problem
Gisèle Pelicot ist leider kein trauriger Einzelfall. Vielmehr reiht sich ihr Schicksal in eine Vielzahl prominenter und weniger bekannter Fälle ein. Sie zeigen, wie tief Gewalt gegen Frauen in unsere Gesellschaft verankert ist.
Harvey Weinstein nutzte über Jahrzehnte seine Machtposition als Filmproduzent aus, um Schauspielerinnen sexuell zu belästigen und zu missbrauchen. Erst als über 80 Frauen an die Öffentlichkeit gingen, kam es zu einer strafrechtlichen Verurteilung. Der Fall offenbarte ein jahrzehntelanges Schweigekartell, in dem berufliche Abhängigkeiten und gesellschaftliche Toleranz für Machtmissbrauch Täter wie Weinstein schützten. Denn Hollywoods oberste Riege wusste jahrelang davon, aber schwieg aus Angst um Karriere und Macht. Der Fall um Weinstein löste die #metoo Bewegung aus. (Q4)
Aktuell wird der Prozess wegen eines Verfahrensfehlers neu aufgerollt. (Q5)
Auch dem Musiker und einem der erfolgreichsten US–Musikproduzenten Sean "Diddy" Combs wird vorgeworfen, Frauen über Jahre hinweg sexuell missbraucht, unter Drogen gesetzt und zur Prostitution gezwungen zu haben. Ein Video, das ihn zeigt, wie er seine Ex-Partnerin Cassie Ventura brutal verprügelt, wurde als Beweismittel zugelassen. Es liegt Nahe, dass auch hier viele Menschen sehr genau wussten, was in seinem Umfeld passiert. (Q6)
Ein weiteres Beispiel ist der Fall Till Lindemann, Frontsänger der Band Rammstein. Zahlreiche Frauen berichteten über systematischen Machtmissbrauch, Alkohol- und Drogeneinfluss sowie sexualisierte Gewalt im Umfeld der Konzerte. Trotz der Vielzahl an Berichten überwog zunächst, und tut es immer noch, die öffentliche Solidarität mit dem mutmasslichen Täter statt den vermeintlich Betroffenen. Die Reflexe der Täterschutzkultur – Verharmlosung, Diffamierung der Opfer und kollektives Schweigen – waren auch hier überdeutlich sichtbar. (Q7)
Auch wenn es bisher keine strafrechtliche Verurteilung gab waren die Aussagen der Betroffenen detailliert, übereinstimmend und zahlreich. Die öffentlichen Reaktionen gingen allerdings in eine andere Richtung: Die Betroffenen wurden als Groupies und Lügnerinnen beschimpft. Anstatt die Anschuldigungen ernsthaft aufzuarbeiten, wurde die Band von Veranstalter und Managment verteidigt. Die Vorwürfe wurden klein geredet und Lindemann als Opfer einer „Hexenjagd“ inszeniert. Ebenso wurde den Betroffenen eine Selbstschuld zugeteilt.
Dies sind lediglich drei weitere Beispiele für aktuelle und gross in den Medien behandelte Fälle. Doch findet Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt überall statt, im Grossen und im Kleinen. Die Mechanismen dahinter sind stets die Gleichen.
Täter-Opfer-Umkehr: Systematische Mittäterschaft
Täter-Opfer-Umkehr ist ein systematischer Mechanismus, der Täter schützt und Gewalt aufrechterhält. Immer wieder erleben wir, dass Frauen nach Übergriffen erklären müssen, was sie getragen haben. Ob sie sich "deutlich genug" gewehrt oder warum sie "so lange geschwiegen" haben. Damit wird die Schuld umgelenkt: Weg vom Täter, hin zum Opfer. Es ist eine bewusste Strategie, die Täter zu schützen und die Opfer erneut zu bestrafen. Diese Praxis ist nicht nur verletzend, sie ist eine Form von Gewalt an sich. Solange Gesellschaft, Justiz und Medien diese Umkehr zulassen, sind sie Teil des Problems. Es ist höchste Zeit, dass wir die Seite wechseln: Radikal solidarisch mit den Opfern, unmissverständlich gegen jede Form von Täterschutz.
Warum der Fall Gisèle Pelicot so exemplarisch ist
Der Fall Gisèle Pelicot legt die strukturellen Missstände unserer Gesellschaft in aller Härte offen. Hier wird sichtbar, wie die bewusste Handlungsunfähigkeit einer Frau systematisch ausgenutzt wurde. Wie Täter sich selbst zu Opfern stilisierten. Und wie die Justiz zunächst zögerte, die Dimension der Tat anzuerkennen.
Gisèle Pelicot wurde durch die Verabreichung von Drogen der Möglichkeit beraubt, zu handeln oder zu widersprechen. Dennoch argumentierten Angeklagte, es habe keine Gewalt stattgefunden – eine erschreckende Verdrehung von Verantwortung. Noch gravierender ist jedoch, dass über Jahre hinweg niemand eingriff: weder Freunde, noch Bekannte oder Behörden. Dieses kollektive Wegsehen zeigt, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur das Ergebnis individueller Entgleisungen ist, sondern auch strukturelles Versagen.
Gisèle Pelicots Geschichte zwingt uns, Stellung zu beziehen: Auf welcher Seite stehen wir – bei den Opfern oder bei den Tätern? Wegsehen? Das ist keine Option mehr!
Täterprävention statt Opferbelehrung: Ein notwendiger Kurswechsel
Seit Jahrzehnten werden Frauen Strategien beigebracht, wie sie sich schützen sollen: nicht alleine unterwegs sein, keine Drinks unbeaufsichtigt lassen, keine „zu kurze“ Kleidung tragen. Diese Erziehung zur Angst verschiebt jedoch die Verantwortung vom Täter auf das potenzielle Opfer.
Statt immer neue Verhaltensregeln für Frauen aufzustellen, müssen wir den Fokus endlich auf die Prävention bei den potenziellen Tätern legen. Prävention bedeutet:
Jungen beizubringen, was Konsens ist. Männer zu lehren, dass Respekt und Nein-Akzeptanz nicht optional sind. Frühzeitig zu thematisieren, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt nichts mit sexueller Leidenschaft, sondern mit Machtausübung und Entmenschlichung zu tun haben.
Nur wenn wir diese Perspektive verändern, können wir diese Spirale durchbrechen. Der Schutz vor Gewalt darf nicht auf den Schultern der Opfer lasten – er ist unsere gesellschaftliche Pflicht.
Die erschreckenden Zahlen zur Gewalt gegen Frauen
Die blossen Zahlen sind ein Mahnmal: Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 360 Frauen Opfer eines Femizids. Dies sind Morde an einer Frau weil sie eine Frau ist. 180.715 Frauen wurden Opfer häuslicher Gewalt und 52.330 Sexualdelikte gegen Frauen wurden gemeldet. (Q8) Die Dunkelziffer liegt weit höher.
Erschreckend ist auch das Ergebnis einer Umfrage: Jeder dritte Mann in Deutschland hält es „unter Umständen“ für akzeptabel, seine Partnerin zu schlagen. (Q9/Q10)
Solche Zahlen zeigen: Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen. Sie ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Sie wird weiterhin bagatellisiert, entschuldigt oder ignoriert.
Vorurteile gegenüber Feminismus – und warum er für alle wichtig ist
Trotz der sichtbaren Missstände wird Feminismus immer noch vielfach diffamiert. Feministinnen werden als „männerhassend“ dargestellt, Feminismus wird als „überholt“ oder „übertrieben“ abgetan.
Doch solche Vorurteile verkennen das Wesen des Feminismus. Feminismus bedeutet nicht, Männer zu hassen. Es bedeutet ein System zu bekämpfen, das auf Hierarchie, Gewalt und Ungleichheit basiert. Feminismus kämpft für eine Gesellschaft, in der alle Menschen – unabhängig von Geschlecht – sicher, frei und respektiert leben können.
Auch Männer profitieren von feministischen Errungenschaften: durch die Auflösung toxischer Rollenbilder, durch die Möglichkeit, verletzlich zu sein, ohne ihre Männlichkeit zu verlieren, durch Beziehungen auf Augenhöhe, frei von Dominanz und Angst.
Feminismus bedeutet nicht Spaltung.
Feminismus bedeutet Freiheit – für alle.
Fazit: Es reicht nicht mehr, wegzuschauen
Der Fall Gisèle Pelicot und viele weitere Beispiele zeigen, dass sexuelle Gewalt und Unterdrückung von Frauen nach wie vor weit verbreitet sind. Es ist dringend notwendig, gesetzliche Regelungen wie „Nur Ja heißt Ja“ einzuführen, um die Rechte und die Sicherheit von Frauen zu stärken.
Feminismus ist kein Kampf gegen Männer, sondern ein Einsatz für eine gerechtere und sicherere Gesellschaft für alle. Es liegt an uns allen, Vorurteile abzubauen, Betroffenen zuzuhören und aktiv gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen.
Wenn wir echte Veränderung wollen, müssen wir den Fokus verlagern. Weg von der Belehrung der Opfer. Hin zu konsequenter Prävention und gesellschaftlicher Ächtung von Gewalt. Nicht Frauen müssen sich ändern. Sondern das System, das Gewalt möglich macht.